Die Rolle des Vagusnervs in der Therapie
von Sieglinde Hieronymus, Judith Johnson and Thor Philipsen
Unser Autonomes Nervensystem (ANS) ist auf natürliche Weise imstande, sich nach einer Belastung selbstständig zu regulieren. Bereits nach kurzer Zeit sollten sich wieder Balance und Entspannung einstellen. Nicht gelöste seelische Belastungen schränken jedoch die Flexibilität unseres ANS ein, was dazu führen kann, dass wir permanent unter Anspannung stehen und uns gleichzeitig energielos und überfordert fühlen können. Infolge bestimmen negative Emotionen, irritierende Körperempfindungen und einschränkende Glaubenssätze unser Leben und bilden den Nährboden für Erkrankungen.
PsychoNeuroEnergetics (PNE) ist eine körperorientierte psychotherapeutische Methode, die gleichzeitig auf physischer, emotionaler, mentaler und seelischer Ebene ansetzt, um die Flexibilität und Selbstregulation unseres ANS wiederherzustellen. Dabei spielt der Vagusnerv, als wichtigster Nerv des ANS, der mit seinen vielen Verzweigungen fast alle Organe beeinflusst, eine elementare Rolle. Eine Dysbalance in diesem, ausgelöst durch anhaltenden Stress oder traumatische Erfahrungen, kann sich in vielfältigen körperlichen Symptomen zeigen. Im weiteren Text wird eine traumatische Erfahrung so definiert, dass deren Verarbeitung die individuelle Fähigkeit übersteigt und somit einschränkend auf das weitere Leben wirkt.
Fallbeispiel
Im Folgenden geben wir einen Eindruck davon, wie wir mit der PNE arbeiten. Tina, 45 Jahre alt, kam zur Behandlung mit Verspannung im rechten Nackenbereich, mit chronischen Kopfschmerzen und einem häufig auftretenden Brennen im Rachenbereich rechts. Die Beschwerden bestanden seit dem 13. Lebensjahr, und die Ärzte konnten keine Ursachen finden. Außerdem litt sie unter Depressionen, wegen derer sie seit einigen Jahren in psychotherapeutischer Behandlung war. Sie hatte inzwischen das Gefühl, alles in ihrer Vergangenheit durchleuchtet und durchgesprochen zu haben. Auf die Frage, ob es irgendwelche physischen Schockerlebnisse gegeben habe, erinnerte sie sich lediglich an kleinere Unfälle, aber nicht an ein außergewöhnliches Vorkommnis. Auch an den Zeitraum um das 13. Lebensjahr herum hatte sie keine spezifischen Erinnerungen.
Zunächst befundeten wir eine rechtsseitige Anspannung im Sternocleidomastoideus (SCM), einem wichtigen Nackenmuskel, der den Kopf dreht. Außerdem war das Atemmuster flach. Um zu einer Veränderung des Atemmusters und einer tiefen Entspannung zu kommen, benutzten wir deshalb in einem ersten Schritt spezielle manuelle Techniken zur Regulation des Vagusnervs. Durch die Entspannung des Muskels wird damit eine gute Voraussetzung für die eigentliche Behandlung geschaffen.
Nun geht es darum, einen Zugang zum tieferen Körpergedächtnis zu erhalten. Dies geschieht, indem über das Halten spezieller Reflexpunkte die Eigenregulation des ANS stimuliert wird. Die Reflexpunkte stehen in Bezug zum Vagusnerv und zum Limbischen Gehirn, ein Teil des Gehirns, in dem unsere alten Erlebnisse und Gefühle gespeichert werden.
Diese Herangehensweise brachte bei Tina eine verdrängte Erinnerung ins Bewusstsein, in der sie im Alter von ca. 13 Jahren von ihrem älteren Bruder eine außergewöhnlich starke Ohrfeige erhalten hatte. Sie konnte sich die Heftigkeit seiner Reaktion damals nicht erklären, da der Schlag das Ausmaß des eigentlichen Konfliktes total überstieg. So erlebte sie dieses Ereignis als Schock, den sie nur durch Abspaltung und Verdrängung aushalten konnte. In der Sitzung begann ihr Körper nun zu zittern – ein Zeichen dafür, dass die Schockenergie freigesetzt wird, die 30 Jahre lang im Körper gespeichert war.
Wir gaben nun Zeit und Raum für die Auflösung der erstarrten Energie und warteten, bis das Zittern abebbte. Spontan vertiefte sich die Atmung. Daraufhin kam Tina die zugrundeliegende Psychodynamik ihrer Herkunftsfamilie ins Bewusstsein: ihr Bruder benahm sich nämlich – bis heute – wie das schwarze Schaf der Familie. Sie liebte ihn, war aber gleichzeitig wütend und verwirrt in Bezug auf ihn. Stets beschäftigte sie die Frage, ob sie etwas falsch gemacht habe und ursächlich verantwortlich für sein Verhalten sei.
Wir sahen uns die Generationslinie ihrer Vorfahren an und entdeckten, dass es auf der väterlichen Seite immer einen Mann in jeder Generation gegeben hatte, der den Glaubenssatz übernommen hatte „Ich bin nicht gut genug“. Der Mann, der jeweils diese Rolle übernahm, schuf immer wieder Situationen, die beständig verhinderten, dass sein Umfeld ihn annehmen und lieben konnte. Dadurch, dass Tina nun dieses Muster verstand, konnte sie den alten Schmerz loslassen und ihre eigene Heilung beginnen. Es tat ihr leid, dass ihr Bruder diese Rolle übernommen hatte und Tränen rollten über ihr Gesicht. Trotzdem hatte sie verstanden: „Es ist sein Problem, nicht das meinige!“
Einige Wochen danach berichtete uns Tina, dass sie mehr Energie habe, sich dynamischer fühle und ihr Nacken frei sei.
Innere Selbstwahrnehmung
Unsere persönliche Lebensqualität ist in hohem Maße abhängig von einem natürlichen und unverstellten Zugang zu unserem positiven Selbstgefühl und dem Gefühl, mit geliebten Menschen verbunden zu sein. Vorrausetzung dafür ist ein gesundes ANS, das zur Selbstregulation fähig ist. Das Limbische Gehirn und das ANS sind die Träger tiefliegender Verhaltensmuster. Daher ist der Zugang über den Vagusnerv ein Schlüssel zu tieferem Wissen und zur Lösung unbewusster Verhaltensmuster.
Unser ANS versucht das ganze Leben lang, sich bestmöglich an Situationen anzupassen, besonders prägend sind hierbei die ersten Lebensjahre. Tinas Fall zeigt, auf welche Weise chronische Schmerzen mit alten traumatischen Erfahrungen verbunden sein können. Die Arbeit mit dem ANS ermöglichte, dass verborgene Erinnerungen bewusstwurden, die bis dahin als Anspannung und Schmerz im Körper lagen. Als die Erstarrungsreaktion sich durch das Zittern im Körper gelöst hatte, war sie in der Lage, eine bewusste Verbindung zu ihren Gefühlen und den darunterliegenden Glaubenssätzen herzustellen. Dieser Prozess des Wahrnehmens und Erkennens führte schließlich zu einem tieferen Verständnis der generationsübergreifenden Familiendynamik. Sie konnte sich selbst und Ihrem Bruder verzeihen und ihre jahrelangen Beschwerden lösten sich auf.
Die Auswirkungen von Trauma im Zentralen und Autonomen Nervensystem
Bessel van der Kolk zeigt in seinem Buch „Verkörperter Schrecken“ MRT-Aufnahmen des Gehirns, die an der Harvard Universität gemacht wurden. Sie bestätigten deutlich, dass infolge traumatischer Erlebnisse in bestimmten Bereichen des Gehirns die Blutversorgung abnimmt, in anderen zunimmt. Weiterhin beschreibt die Polyvagal Theorie von Stephen Porges eine Reaktion der Immobilisierung auf der Ebene des ANS.
Kampf- oder Fluchtverhalten
Das Limbische System, dort insbesondere die Amygdala (unser „Rauchmelder“ in Bezug auf Gefahr), wird von starken Emotionen aktiviert. Bei intensiver Angst, Ärger oder Traurigkeit werden in großen Mengen Stresshormone wie Adrenalin und Cortison freigesetzt und das Sympathische Nervensystem wird initial aktiviert. Die Prefrontallappen im Kortex, welche uns ermöglichen, bewusste Entscheidungen zu treffen und unsere Impulsivität zu moderieren, zeigen eine deutlich verminderte Durchblutung. Somit verschiebt sich das kritische Gleichgewicht zwischen der Amygdala und dem Kortex.
Wenn Traumareaktionen nicht aufgelöst werden, reagiert die Amygdala chronisch überempfindlich und wird immer wieder getriggert von mehrdeutigen Stimuli, die normalerweise von unseren Prefrontallappen nicht als bedrohlich eingestuft werden würde.
Diese Fehleinschätzungen von Situationen führen bei Traumatisierten zu unkontrollierten Kaskaden toxischer Stressreaktionen, die auch noch Jahre nach dem auslösenden Ereignis ablaufen. Die Funktionsstörung des ANS drückt sich in starker Unruhe, Ängsten, Panik und Verhaltensänderungen aus, die von der Person als nicht beeinflussbar erlebt werden.
Immobilisation
Stephen Porges beschreibt mit seiner Polyvagal-Theorie eine Art „Lähmungsprozess“, der biochemisch im Falle einer Traumatisierung abläuft: Wenn eine traumatische Situation überwältigend ist und die Person in einen hilflosen und hoffnungslosen Zustand versetzt, initiieren die hinteren Vagus Fasern (ein Teil des Vagusnerv, der zum Parasympathischen Nervensystems gehört) eine Immobilisation, die zu einer Einschränkung vieler Körperfunktionen führt. Dies kann sich in Form einer Depression, chronischer Müdigkeit oder Burn-Out zeigen, kann aber auch zu chronischen Schmerzen oder kognitiven Einschränkungen führen.
Der klinische Ansatz der PNE
PsychoNeuroEnergetics ist eine körperorientierte Therapie, die integrierend mit der physischen, emotionalen, mentalen und spirituellen Ebene arbeitet. Subtile Körperwahrnehmungen sind die „Sprache der Seele“ und werden als Zugang zu den traumatischen Speicherungen genutzt. Therapeuten lernen, diese Sprache der Seele bzw. des ANS im Körper zu erkennen und zu verstehen.
Oft ist es sinnvoll, im Vorfeld einer Behandlung eine zu hohe Anspannung und/oder Erstarrung im Körper durch die Aktivierung des vorderen Vagus, zu lösen und so den Prozess des Umstrukturierens und Neuinformierens in Gang zu setzen. Die manuellen Techniken, die wir benutzen, sind primär von Stanley Rosenberg und Thor Philipsen entwickelt worden, basierend auf der Polyvagaltheorie von Stephen Porges.
Zugang zu den unbewussten innerpsychischen Mustern erlangt der PNE-Therapeut über spezielle neurosomatische Körperpunkte, die eine über den Vagusnerv vermittelte reflektorische Verbindung zu den Organen und Drüsen herstellen. Auf diese Weise wird eine direkte Informations-Verbindung geschaffen zu den Erinnerungen, Prägungen und Reaktionsmustern des limbischen Gehirns.
Anhaltende Pressur dieser Punkte, verbunden mit einer feinfühligen geprächsthera-peutischen Begleitung, ermöglichen dem Klienten, das traumatische Geschehen in einem sicheren Rahmen aufzuarbeiten. Entscheidend für die Auflösung der einschränkenden Folgen eines Traumas ist die Entladung der im autonomen Nervensystem gefrorenen Energie. Danach können die seinerzeit so überwältigenden Gefühle nun in kleinen, wohldosierten Schritten wahrgenommen und die dahinterliegenden Glaubensätze, die unser Leben seitdem unbewusst bestimmen, erkannt werden.
Einschränkende Glaubensmuster oder Gewohnheiten können aus eigenen traumatischen Erfahrungen stammen, sie können aber auch von Eltern oder anderen Familienmitgliedern oder sogar aus kulturellen Systemen übernommen sein.
Wenn die Fülle von Empfindungen, Gefühlen, Gedanken und Worten im geschützten Rahmen der Behandlung erfahren werden kann, wird eine bewusste Transformation möglich. Das daraus resultierende einschränkende Glaubensmuster, das den Körper aus seiner Balance gebracht hatte, löst sich auf und ein tiefes Verstehen stellt sich ein.